„Wenn ich es nicht gesehen habe, dann deshalb, weil ich es nicht sehen wollte.“

Lesedauer 16 Minuten

Manchmal liest man Bücher nicht, weil man glaubt zu wissen, was in ihnen steht. Nicht weil man ihnen widerspricht. Im Gegenteil. Man empfiehlt sie durchaus anderen in der Überzeugung, dass sie wichtig und gut sind – man selbst aber sie nicht (mehr) nötig habe. So ging es mir mit Hannah Arendts Buch über Eichmann und „seinen“ Prozess.[1] Das musste ich nicht lesen, das wusste ich, meinte ich, glaubte ich. Ich hatte von ihr schon einiges gelesen, das mich im eigenen Denken maßgeblich beeinflusst hat. Natürlich vor allem ihre Vita activa,[2] das mir die „Griechen“ auch politisch nahebrachte. Und dann ihre wenig beachteten Vorlesungen über Das Urteilen, Texte zur Politischen Philosophie Kants, die mir in vielem zusprachen und souverän das skizzierten, was ich selbst dachte. Anders als ihre vielleicht wirkungsmächtigsten Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Dem konnte ich nichts abgewinnen, weil ich es bis heute nicht gelesen habe. Ich bin (war?) wiedermal überzeugt, dass da nicht viel Gehaltvolles zu erwarten war.[3] Eichmann las ich aus dem gegenteiligen Grund nicht: ich wusste, dass sie recht hatte – und damit gut.

Nun hab’ ich ihren Eichmann doch gelesen und empfehle die Lektüre vor allem denen, die zu wissen glauben, was drinsteht. Von Neo-Nazis und Geschichtsrevisionisten darf man vermutlich nicht erwarten, dass sie durch die Lektüre eines Buchs von ihren Überzeugungen abweichen. Wer freilich der Warnung Brechts folgt, „Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert /…/ Daß keiner uns zu früh da triumphiert – / Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“, dem sei der „Eichmann“ empfohlen – der Antifa, den aufgeklärten Gutmenschen, den sozialdemokratischen und sozialliberalen Aufklärern.[4] Eichmann in Jerusalem lehrt uns einiges über die Qualität des Verbrechens, vor allem aber viel über diejenigen, die sie begehen.

Adolf Eichmann

Adolf Eichmann, 1942

Adolf Eichmann war Leiter der Abteilung des Reichssicherungshauptamts, die für die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Juden „zuständig“ war. Seine Aufgabe war kurz gesagt die Organisation der Vernichtung. Als Abteilungsleiter war er kein „hohes Tier“, er begleitete grade mal den Rang eines SS-Obersturmbannführers und trachtete während seiner ganzen Karriere nach einer Beförderung zum SS-Standartenführers.[5] Vor seinem Eintritt in die NSDAP und in die SS war er eine mehr oder weniger gescheiterte Existenz: ohne Schul- und Berufsabschluss verdingte er sich als Vertreter ohne Aussicht auf eine gesicherte berufliche Zukunft. Diese Sicherheit bekam er nun in der SS – feste Befehlsstrukturen und das Gefühl gebraucht zu werden und „sinnvoll“ mitmachen zu können. Als er im Frühjahr 1945 nach einem Herumirren in dem auseinanderfallenden Reich in amerikanische Gefangenschaft gerät, ist er „froh“ wieder einer Ordnung zu begegnen, der man Folge leisten kann. Unter falschem Namen und zunächst mit dem Versuch die Zugehörigkeit zur SS zu verschweigen, gelingt ihm 1946 die Flucht aus dem Lager. Er taucht unter und flieht schließlich nach Argentinien, wo er bis zu seiner Entführung unter ärmlichen Bedingungen lebt. In Deutschland war der Eifer nicht sonderlich groß, ihn zu finden. Es gibt starke Indizien, dass die Organisation Gehlen, der Vorläufer des 1956 gegründeten Bundesnachrichtendienstes, bereits 1952 vom Aufenthaltsort Eichmanns wusste. Schließlich wurde er – auf Hinweis des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer – durch den israelischen Geheimdienst aufgespürt, im Mai 1960 nach Israel entführt und dort 1961 vor Gericht gestellt und zum Tode verteilt.

Der Prozess

Der Prozess, der von April bis Dezember 1961 mit großem Aufwand geführt wurde, ist eigentlich ein Nachsitzen und hat kein überraschendes Ergebnis. Hätte man Eichmann 1946 als „Eichmann“ erkannt, wäre er mit großer Wahrscheinlichkeit bereits im Rahmen der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt worden. Niemand bezweifelt ernsthaft die Schuld Eichmanns oder die Rechtmäßigkeit der zugeteilten Strafe.[6]

Und dennoch gab es auch Bedenken gegen den Prozess und Hannah Arendt geht ihnen ausführlich nach. Da ist natürlich die völkerrechtswidrige Entführung ohne die freilich der Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit nie hätte stattfinden können. Und da ist die zunächst albern klingende Frage der Zuständigkeit: wer sollte mit welcher Anklage über Eichmann zu Gericht sitzen. Hannah Arendt sieht vor allem drei „grundsätzliche Probleme“, die bei allem guten Willen der israelischen Behörden und trotz der von Hannah ausdrücklich gelobten Verhandlungsführung – sie zollt vor allem dem Vorsitzenden Mosche Landau höchste Anerkennung – nicht bewältigt werden können:

Zusammenfassend ist zu sagen, daß es dem Jerusalemer Gericht nicht gelang, drei grundsätzlichen Problemen, die sämtlich seit den Nürnberger Prozessen hinreichend bekannt und weithin diskutiert worden waren, gerecht zu werden: der Beeinträchtigung der Gerechtigkeit und Billigkeit in einem Gerichtshof des Siegers [[7]], der Klärung des Begriffes ‚Verbrechen an der Menschheit‘ und dem neuen Typus des Verwaltungsmörders, der in diese Delikte verwickelt ist.[8]

Die ersten beiden Punkte verweisen aufeinander. Israel reklamiert(e) für sich, das Verbrechen gegen das jüdische Volk vor ein israelisches Gericht zu stellen. Dagegen kann man mancherlei Vorbehalte haben. Hannah Arendt räumt einige davon ziemlich entschieden weg und billigt dem Staat Israel durchaus ein grundsätzliches Vertretungsrecht für das jüdische Volk zu. Ihr entscheidendes Argument ist freilich, dass hier gar kein Verbrechen gegen das jüdische Volk, sondern eines „an der Menschheit“ zur Verhandlung stand. „Verbrechen an der Menschheit“ sind von Kriegsverbrechen und unmenschlichen Handlungen zu unterscheiden. Im einen Fall handle es sich um Verbrechen an Menschen, im anderen Fall um den verbrecherischen Vorsatz, ein Gruppe von Menschen durch Ausrottung aus der Menschheit auszuschließen.

Die Perspektive „Antisemitismus“ lasse das ganze Ausmaß des Verbrechens und seinen wesentlichen Kern nicht sichtbar werden. Mit Blick aufs jüdische Volk waren die Verbrechen „nur“ die Steigerung dessen, was sie jahrhundertelang erlitten; den Anklägern erschienen sie nicht „als neuartigste Verbrechen, als Völkermord, für den es keine Präzedenzien gab, … sondern im Gegenteil [?] als das älteste, das Juden kannten und an das sie sich erinnerten. Dem Ankläger und den Richtern gleichermaßen erschien dieser Völkermord nur [„“] als der schrecklichste Progrom in der jüdischen Geschichte“.[9]

Hannah Arendt, die zur Flucht genötigte Jüdin, stellt dieses aus ihrer Sicht furchtbare Missverständnis an einem wirklich schmerzlichen Vergleich heraus. Ausschwitz ist nicht die notwendige Folge der Nürnberger Rassengesetze. Das seien vielmehr (nationale) Gesetze zur ungerechtfertigten und nachhaltigen Benachteiligung einer Bevölkerungsgruppe. „Das Verbrechen der Nürnberger Gesetze war ein nationales Verbrechen: es verletzte die in der deutschen Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten einer Gruppe von Staatsbürgern, ging aber die Gemeinschaft der Nationen nichts an.“ Und Hannah Arendt geht noch einen provokanten Schritt weiter. „die Unbekümmertheit, mit der der Ankläger die berüchtigten Nürnberger Gesetze von 1935 anprangerte, in denen Eheschließung und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Deutschen verboten wurde, verschlug einem einigermaßen den Atem “.[10] Warum? Weil sich „völkische Unterscheidungen“ durchaus auch im lange Zeit „durch rabbinisches Gesetz bestimmten“ Israel finden, wonach z.B. kein Jude einen Nichtjuden heiraten darf und „das Kind einer nichtjüdischen Mutter weder gesetzlich getraut noch bestattet werden“ kann.[11]

Hannah Arendt will damit nicht die verhängnisvolle Bedeutung der Nürnberger Gesetze – auch für den Weg nach Ausschwitz – herabsetzen.[12] Ihr geht es einzig darum die Qualität des zur Anklage stehenden Verbrechen herauszustellen, nämlich als „Verbrechen an der Menschheit“, von dem Hannah Arendt meint, dass es „in jeder Hinsicht beispiellos“ sei.[13] Eine Konsequenz dieser Tatsache wäre gewesen, dass nicht ein israelischer, sondern besser ein internationaler Gerichtshof hätte Rechtsprechen sollen.

Typ Eichmann – die Niederungen

Adolf Eichmann, 1961 beim Prozess in Jerusalem

Die Beispiellosigkeit des Verbrechens hat zwei Dimensionen: die der Tat und die des Täters bzw. der Täter. Bei Verbrechen so ungeheurer Art, stellt sich sofort die Frage, wer konnte so etwas tun. Vor allem aber muss, wer Taten verhindern will, sich um die möglichen Täter kümmern. Er muss verhindern, dass Täter zur Tat schreiten wollen und können.

Die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen führt dabei schnell zu dem Fehlschluss, dass ungeheure Verbrechen nur von Ungeheuern vollbracht werden könnten. Wenn Hannah Arendt im Untertitel von der „Banalität des Bösen“ spricht, dann natürlich nicht, weil sie die Verbrechen banalisieren wollte, sondern weil sie auf einen (neuen) Typus von Verbrecher gestoßen ist, der die Verbrechen tatsächlich in ein neues Licht rückt. Das Böse zeigt sich nicht in „dämonischen“ Willenskraft eines großen Verführers, sondern in der „Mediokrität“ des „braven“ Verwaltungsvollzugs. Eichmann ist kein Mann der großen Tat. Er hat nichts genialisch Dämonisches an sich und verfolgt keine eigenen politischen Ziele. Die Ziele werden ihm vielmehr von außen gegeben.

Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, daß dieser Mann kein ‚Ungeheuer‘ war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, daß man es mit einem Hanswurst zu tun hatte. Und da dieser Verdacht das ganze Unternehmen ad absurdum geführt hätte und auch schwer auszuhalten war angesichts der Leiden, die Eichmann und seinesgleichen [!] Millionen von Menschen zugeführt hatten, sind selbst seine tollsten Clownerien kaum zur Kenntnis genommen und fast niemals berichtet worden.[14]

Und darin lag zugleich eine neue unvermutete Schwierigkeit des Prozesses und der Rechtsprechung, die nämlich davon ausgehen muss, dass ein „Unrechtsbewußtsein zum Wesen strafrechtlicher Delikte gehört“![15] Moralische Unzurechnungsfähigkeit, also auch zur ausgeführten Handlung kein Unrechtsbewußtsein entwickeln zu können, macht sie „strafrechtlich nicht faßbar“. Das Fehlen niedriger Motive (!) macht eine Verurteilung schwierig.[16] Eichmanns Verbrechen schienen sich als „Verbrechen in Routinehandlungen“ zu erweisen.

Deshalb entwickelt die Anklage den schier verzweifelt anmutenden Versuch, Eichmann niedrige Motive und z.B. einen tatsächlich vollzogenen Mord nachzuweisen. Alles lief stattdessen „nur“ auf „Beihilfe und Vorschub“ hinaus.

Das „rührte an das eigentliche Wesen dieses Verbrechens, das kein gewöhnliches Verbrechen war, an die wahre Natur dieses Verbrechers, der kein gewöhnlicher Verbrecher war; das Urteil nahm implizite auch Kenntnis von der unheimlichen Tatsache, daß es in den Todeslagern für gewöhnlich die Insassen und die Opfer gewesen waren, die tatsächlich ‚das Mordwerkzeug mit eigenen Händen‘ geführt hatten. Was das Urteil über diesen Punkt zu sagen hatte, war mehr als korrekt, es war die Wahrheit: ‚Falls wir seine Handlungen in der Sprache des Paragraphen 23 unseres Strafkodex kennzeichnen wollen, so waren alle in ihrem Wesen Anstiftungshandlungen und Anweisungen an andere wie auch Hilfeleistungen an andere oder Ermöglichung der Handlungen anderer. Aber in diesem gigantischen und weitverzweigten Verbrechen, das vor uns zur Behandlung steht, an dem viele Personen verschiedenen Befehlsstufen und in verschiedenen Tätigkeitsausmaßen teilgenommen haben – Planentwerfer, Organisatoren und die verschiedenen Rangordnungen angehörenden Ausführungsorgane –, ist es nicht zweckmäßig, die üblichen Begriffe des Anstifters und Gehilfen in Anwendung zu bringen. Die gegenständlichen Verbrechen sind ja Massenverbrechen, nicht nur, was die Zahl der Opfer anlangt, sondern auch in bezug auf die Anzahl der Mittäter, so daß die Nähe oder Entfernung des einen oder des anderen dieser vielen Verbrecher zu dem Manne, der das Opfer tatsächlich tötet, überhaupt keinen Einfluß auf den Umfang der Verantwortung haben kann. Das Verantwortlichkeitsausmaß wächst vielmehr im allgemeinen, je mehr man sich von demjenigen entfernt, der die Mordwaffe mit seinen Händen in Bewegung setzt.[17]

Für die Verteidigung hieß dies: der Angeklagte sei an „Regierungsverbrechen“ beteiligt gewesen und „was ihm [!?] geschehen sei, könne in Zukunft jedermann geschehen, die ganze Welt stehe vor diesem Problem.[18]

Eichmann beteuert – nicht völlig unglaubwürdig –, sein „Wille war nicht, Menschen umzubringen“. Wir können z.B. lesen, wie er in der Frühphase der Endlösung beauftragt wird, die „Fortschritte“ vor Ort zu überprüfen. Er erlebt aus einiger Entfernung Erschießungen von zusammengetriebenen Juden und ihm werden Versuche von Vergasungen über Lastwägen vorgeführt. Das alles erschüttert ihn zutiefst. Er bittet seine Vorgesetzten, von den Kontrollbesuchen entbunden zu werden, weil er dafür nicht die „psychische Robustheit“ habe.[19] Das führt ihn aber nicht zum Zweifel an den Zielen. Die liegen nicht in seiner Reichweite oder Zuständigkeit. Im Gegenteil rühmt er sich während polizeilicher Verhöre, „fünf Millionen Reichsfeinde“ beseitigt zu haben. Das verleihe ihm „ein Gefühl großer Zufriedenheit“.[20] Er hat – so würden wir das heute wohl ausdrücken, „einen guten Job“ gemacht. Wie so ein Job aussieht wird von anderen anschaulich und anerkennend beschrieben: Eichmann war in den späten dreißiger Jahren zunächst damit befasst, die Aussiedlung der Juden und ihre gleichzeitige Enteignung zu organisieren; ihm gelingt das – wie einer seiner Vorgesetzten schwärmend bestätigt – mit großer Effizienz: „es ist wie ein automatisch laufender Betrieb, wie eine Mühle, in der Getreide zu Mehl zermahlen wird und die mit einer Bäckerei gekoppelt ist. Auf der einen Seite kommt der Jude herein, der noch etwas besitzt, einen Laden oder eine Fabrik oder ein Bankkonto. Nun geht er durch das ganze Gebäude, von Schalter zu Schalter, von Büro zu Büro, und wenn er auf der anderen Seite herauskommt, ist er aller Rechte beraubt, besitzt keinen Pfennig, dafür aber einen Paß, auf dem steht: ‚Sie haben binnen 14 Tagen das Land zu verlassen, sonst kommen Sie ins Konzentrationslager.[21]

Hannah Arendt glaubt insbesondere eine „sichtbare Hilflosigkeit der Richter“ zu erkennen, den Angeklagten wirklich zu verstehen.[22] Die „offenbar falsche Beschreibung des Angeklagten … als eines perversen Sadisten“ durch den Staatsanwalt führt tatsächlich völlig in die Irre. Ihn als „größtes Ungeheuer, das die Welt je gesehen hat“ zu beschreiben, hätte ja die fatale Konsequenz, nicht erklären zu können, warum es so „viele wie ihn“ gab und eben die Eichmanns „typisch für ‚die ganze Nazibewegung und alle Antisemiten überhaupt‘“ gelten sollen. „Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.[23]

Die eigentliche Erkenntnis des Eichmann-Prozesses ist eben „dieser neue Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humanis, unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Taten bewußt zu werden“.[24] Hannah Arendt zweifelt – wie ich – nicht an der Schuld Eichmanns und an der Rechtmäßigkeit des Urteils. Sie bekennt sich auch zum Todesurteil und seiner Vollstreckung. Eichmann selbst hielt seine Schuld für „selbstverständlich“ und erwartete das Todesurteil: hätte er die Vernichtung nicht geplant und die Transporte organisiert, dann wären fünf Millionen Juden nicht ermordet worden. „‚Was gibt es da zu gestehen‘, fragte er.[25] Aber er sprach davon, seine Schuld sei sein „Gehorsam“ gewesen – und Gehorsam werde doch als Tugend gepriesen. Gehorsam klingt in unseren Ohren heute verdächtig, abgenutzt und unbrauchbar. Wir stellen uns der Herausforderung des Typus Eichmann erst wirklich dann, wenn wir uns kopfschüttelnd vom unwirksam gewordenen Gehorsamskult abwenden. Wie könnten die Eichmanns heute versucht sein, die Umsetzung ihrer vorgegebenen Ziele durch konsequentes „Verwaltungshandeln“ zu begründen? Die Funktion müssten andere Tugenden übernehmen, Verantwortungsbewusstsein z.B. oder Solidarität. Ethische Tugenden sind den Eichmanns nicht fremd. Im Gegenteil. Sie ersetzen politische Ziele, die ihnen fremd und weitgehend gleichgültig sind.

Der Typ Speer – an der Spitze

Eichmann ist eine gescheiterte Existenz, der seine Befriedigung darin findet, Aufgaben übertragen zu bekommen und sich für ihre Erledigung in der Pflicht sieht und einem bürokratischen Gehorsam frönt. Ein anderer Typ, aber nicht weniger a-moralisch, ist Albert Speer.

Speer mit Hitler, 1942

Speer entstammte einem großbürgerlichen Haus und hatte von Charakter und Herkunft keine Nähe zu den Nazis und insbesondere ihrer Ideologie. Er ist gebildet, frei- und feingeistig, liebt Goethe, Schiller und Kleist und fühlt sich der romantischen Wandervogelbewegung verbunden. Mit seiner Verlobten wandert er wochenlang durch Deutschland und die „Hochzeitsreise“ verbringen die beiden paddelnd auf einer Kanufahrt durch Mecklenburg. 1930 tritt er nach einer Parteiveranstaltung durch Hitler fasziniert in die NSDAP ein und findet durch einige „günstige“ Umstände Zugang zum engsten Kreis um Hitler. Er wird Hitlers „Liebling“ und gilt ab 1942 als „zweiter Mann im Staat“. 1945 kommt er mit Dönitz als Teil seines Kabinetts in Gefangenschaft und wird 1946 im Nürnberger Prozessen gegen nationalsozialistische Kriegsverbrechen zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Von 1966 bis zu seinem Tod 1981 lebt er meist in Heidelberg, veröffentlicht seine Erinnerungen, die er bereits in der Haft zu schreiben begonnen und aus dem Gefängnis in Spandau hatte herausschmuggeln können. Speer bekannte sich von Anfang im Prozess zu seiner Schuld. Aber immer ging es um die Frage, wieviel er vom organisierten Massenmord wusste, welchen Beitrag er dazu leistete und wie es mit seiner Glaubwürdigkeit stand. Eine Wendung Speers bringt es vielleicht auf einen abschließenden Punkt: „Wenn ich es nicht gesehen habe, dann deshalb, weil ich es nicht sehen wollte.[26]

Joachim Fest hat sich in Speer, Eine Biographie (1999) mit der Person aber auch mit dem Typ Speer beschäftigt. Er hält ihn für ein herausragendes Exemplar der Zeitströmung, die darin besteht, sich von der jeweils herrschenden Strömung hierhin und dorthin tragen zu lassen.[27] Rücksichtslos verfolgt er die Ziele, die ihm gegeben wurden. Und die Rücksichtslosigkeit fällt ihm nicht zuletzt deshalb so leicht, weil er die wirkliche Sicht auf das, was der tut, vielfach gar nicht hat: die Folgen seines Tuns zeigen sich einzig auf Plänen und in Zahlenkolonnen, wir würden heute von Key Performance Indicators und Dashboards sprechen.

Fest spricht von einem „Mann mit vielen Fähigkeiten, aber ohne Eigenschaften“. Und hier schließt sich der Kreis zu Eichmann.

Eichmann, Speer und der Antifaschismus

Speer ist „niemals, auch ansatzweise nicht, Antisemit gewesen“ und „nicht ohne Genugtuung“ hebt er in seinen Erinnerungen hervor, dass auch im Laufe des Nürnberger Prozesses „kein einziges Dokument aufgetaucht“ sei, „das mich in diesem Zusammenhang belastete“.[28] Das freilich lässt uns „noch ratloser“ zurück. Könnten wir seine Taten als Folge „irrer Ideologien“ erklären, wäre uns geholfen. Und tatsächlich gehen wir nach wie vor so vor. Wir suchen in unserem Wehret-den-Anfängen-Kampf gegen den Faschismus nach ideologischen Spurenelementen von Rassismus und Antisemitismus.

Der Antisemitismus, das hatte Hannah Arendt betont, kann die „Verbrechen an der Menschheit“ nur bedingt erklären. Der Holocaust – so der „Kernpunkt ihrer Kritik“ – ist nicht das zwangsläufige Ergebnis des Antisemitismus.[29] Der Antisemitismus ist vielmehr die „innere Notwendigkeit des totalitären Regimes, ein Feindbild zu entwickeln[30] Totalitäre Herrschaft braucht die selbstverstärkende Beschwörung drohender Gefahren – wie absurd die auch immer sein mögen. So war die „wirksamste Lüge“ des Nationalsozialismus das „Schlagwort vom ‚Schicksalskampf des deutschen Volkes‘“.[31] Der propagandistische Medienfeldzug führte zur Verstärkung der inneren „polizeilichen“ Überwachung, zu sich stetig ausweitenden staatlichen Übergriffen bis hin zu offenem Terror im Inneren und schließlich dem Krieg nach außen.

Für totalitäre Herrschaft – und nicht zuletzt den Holocaust – braucht es Eichmanns und Speers, deren „banale“ Gründlichkeit, deren Beharren auf Tugenden des Gehorsams und Verantwortungsbewusstseins, des sich Einfügens ins große Ganze, das niemand mehr überblickt. Der Nationalsozialismus brauchte keine dämonischen Ungeheuer, er brauchte Ausführungsorgane: „Aus dieser Verlegenheit half dem Regime auf allen Ebenen das Riesenkorps der Fachleute. Ohne einen Anflug von Beunruhigung oder Zögern liehen sie den neuen Männern sowohl ihre Fähigkeiten als auch ihre Erfahrungen und haben auf diese Weise den Machteroberungskurs der Hitlerleute überhaupt erst möglich gemacht: Beamte, Behördenleiter und lokale Verwaltungschefs, Polizeivorsteher, Dezernenten und andere Amtsträger.“ Alle folgten „gewissenhaft [!?] und mit gewohnter Hingabe, was sie als ihre Pflicht erkannten [?], obwohl des vielfach die bis gestern gültige rechtsstaatlich Wirklichkeit geradezu umstülpte“.[32]

Die Dämonisierung der großen Verführer erlaubt zugleich eine Immunisierung der teuflisch Verführten. Man sei eben auf die Tricks, die Versprechungen und Lügen hereingefallen. Die Linke hat Recht, wenn sie stattdessen auf ökonomische und soziale Abhängigkeiten verweist und auf die Verwertungsbedingungen des Kapitals. Es ist aber der dadurch induzierte ideologische „Überbau“, die „ethische Haltung“ der Subjekte, die die Ausführungsbedingungen des Holocaust schafft. Ohne Eichmanns und Speers hätte es den Holocaust nicht gegeben.

Sebastian Haffner hat Speer als „ziemlich selbstbewussten“ jungen Mann beschrieben, der keiner der „auffälligen und pittoresken Nazis“ gewesen sei, vielmehr „der erfolgreiche Durchschnittsmensch, gut gekleidet, höflich, nicht korrupt …In ihm sehen wir eine Verwirklichung der Revolution der Manager“. Speer symbolisiere „einen Typus, der in steigendem Maße in allen kriegführenden Staaten wichtig wird: den reinen Techniker, den klassenlosen, glänzenden Mann ohne Herkommen, der kein anderes Ziel kennt, als seinen Weg in der Welt zu machen. … Dies ist ihre Zeit. Die Hitler und die Himmler mögen wir loswerden. Aber die Speers, …, werden lange mit uns sein.[33]

Wer totalitäre Herrschaft verhindern will, darf nicht nur nach Spurenelementen von Rassismus und Antisemitismus suchen. Juden und Farbige lassen sich schnell durch Kommunisten oder Querdenker, Ungläubige oder „Ungeimpfte“ ersetzen. Die Spurenelemente der „totalen Herrschaft“ liegen weniger in einer Ideologie und ihren Phrasen als vielmehr der Banalität der Gefolgschaft und Willfährigkeit. Es braucht keine Sadisten, es braucht nur brave Bürger, um größtmöglichen Schrecken zu verbreiten.

Gibt es heute noch Eichmänner? Die Frage ist natürlich rein rhetorisch. Die eigentliche Frage ist: wo „sitzen“ sie? In den Reichsbürgerversammlungen und den Trinkhallen der Neonazis? Das wäre ziemlich harmlos. Damit kämen sie nicht weit. Es braucht viele Eichmänner und zwar dort, wo sie fast immer saßen, in Verwaltung und Juristerei, beim Militär und der Polizei, in Wissenschaft und Medien. Lassen wir uns für einen Moment auf die Provokation eines „demokratischen Eichmanns“ ein, der den Willen der Mehrheit brav, verantwortungsbewusst und solidarisch vollstreckt. Gerade davor sollten uns die Grundrechte schützen.

Aber auch beim Schutz der Grundrechte treffen wir in Verwaltung und Juristerei, in Wissenschaft und Medien nicht nur „Widerstandskämpfer“ … Wie dem auch sei. Ein guter Schutz vor Faschismus und totaler Herrschaft ist die Lektüre von Hannah Arendts Eichmann. Sie sei jedem ans Herz gelegt. 

 

[1] 1963 zunächst englisch erschienen als Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil und dann 1963 in deutsch: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Ich zitiere hier die Ausgabe von 1986 („Eichmann“), die mit einer Einführung von Hans Mommsen versehen ist, der insbesondere auch auf die sich anschließende Diskussion eingeht, in der sich Hannah Arendt heftiger Kritik nicht zuletzt von Seiten des Judentums und Israels ausgesetzt sah.

[2] 1958 zunächst englisch als The Human Condition erschienen, dann 1960 auf deutsch als Vita activa oder Vom tätigen Leben.

[3] Wie bei Poppers Feinden der offenen Gesellschaft schien/scheint mir es auf eine falsche Fokussierung auf „totalitäre“ Staaten à la nationalsozialistisches Deutschland und stalinistische Sowjetunion hinauszulaufen. Zugegeben, da wäre ich mir jetzt nicht mehr sooo sicher. Gut tausend Seiten lösen auch eine gewisse Hemmung aus, die bei mir vermutlich in den nächsten Wochen nachlässt!

[4] Hannah Arendt hat sich intensiv auch mit der Rechtmäßigkeit des Prozesses beschäftigt und sich dabei vor allem mit dem politischen Motiven Ben Gurions auseinandergesetzt. Es ist die Frage, wem der Prozess eigentlich nützt und für wen er gedacht ist. An die Aufklärung der „Nachgeborenen“, die man sich in Israel davon versprach, kann sie nicht recht glauben. Die einen interessiert er nicht groß, weil sie sich aus dem Verhängnis der Vergangenheit befreien wollen; das gilt natürlich vorrangig für die Täter und ihre „Nachkommen“, aber auch – so Hannah Arendt – für die israelische „Jugend“. Wer wirklich wie Hannah Arendt am Prozess Interesse zeigt, sind die (direkten) Opfer, denen durch einen Urteilsspruch zwar Gerechtigkeit gegeben werden kann, denen der Prozess aber wenig Aufklärung bringt: was darin an Verbrechen offenbar wird, das wissen sie nur zu gut aus eigener Erfahrung.

[5] Die entsprechenden Ränge der Reichswehr waren Oberstleutnant und Oberst.

[6] Natürlich kann man grundsätzliche Bedenken gegen die Todesstrafe an sich haben; wenn überhaupt, dann ist Eichmann jedenfalls ein Fall ihrer Zurechnung. Allerdings gab es Vorbehalte sie wirklich zu vollstrecken. Auch hier öffnet sich eine „weites Feld“ von Gründen und Gegengründen, die Hannah Arendt mit brillianter Sachlichkeit verhandelt, die sich nicht in neutralisierender Kälte verliert.

[7] Man muss hier wohl sagen, der überlebenden Opfer bzw. dessen Nachkommen.

[8] Eichmann, a.a.O., S 398.

[9] Eichmann, a.a.O., S 389f.

[10] Eichmann, a.a.O., S 75.

[11] Eichmann, a.a.O., S. 74.

[12] Die Rolle der Nürnberger Gesetze werden von ihr ausführlich diskutiert und bewertet: S. 90ff.

[13] Ich folge der Herleitung des Begriffs „Verbrechen an der Menschheit“ weitgehend – würde mir aber eine umfassende Erörterung wünschen. Ohne Verharmlosung das Wort zu reden, ist die Beispiellosigkeit nicht wirklich begründet. Ohne Zweifel beispiellos ist die industrielle Ermordung einer Volksgruppe. Zu zeigen wäre nun, dass dies die einzige Ausprägung des „Verbrechens an der Menschheit“ darstellt. Dazu müsste man die begriffliche Herleitung des „Verbrechens gegen die Menschheit“ genauer durchdenken.

[14] Eichmann, a.a.O., S 132. So erläuterte er dem Gericht wortreich und umständlich, dass er niemals mehr einen Eid – keinem Staat, keinem Gericht, niemanden mehr – schwören wolle, um am nächsten Tag darauf zu bestehen, unter Eid auszusagen.

[15] Eichmann, a.a.O., S 401.

[16] Eichmann, a.a.O., S 24f.

[17] Eichmann, a.a.O., S 363f.

[18] Eichmann, a.a.O., S 364.

[19] Das alles nachzulesen im Kapitel VI, Die Endlösung, Eichmann, a.a.O., S 168ff.

[20] Eichmann, a.a.O., S 122.

[21] Eichmann, a.a.O., S 121.

[22] Eichmann, a.a.O., S 400.

[23] Eichmann, a.a.O., S 400.

[24] Eichmann, a.a.O., S 400f.

[25] Eichmann, a.a.O., S 130.

[26] Zit. nach Joachim Fest, Speer, Eine Biographie, 1999, S. 445.

[27] Fest, a.a.O., S. 466.

[28] Fest, a.a.O., S. 168.

[29] Eichmann, a.a.O., S 20

[30] Eichmann, a.a.O., S 21

[31] Eichmann, a.a.O., S 130. Auch hier muss man das „Schlagwort“ nur „modernisieren“, um deren „Schlagkraft“ – welche Übersetzung hier besonders wirksam ist, überlasse ich mal der Phantasie und den Umständen der Leser.

[32] Joachim Fest, Speer, Eine Biographie, 1999, S. 12. Fest erwähnt u.a. Rudolf Diels, ein leitender Mitarbeiter des sozialdemokratischen preußischen Innenministers, der dann die Gestapo aufbaute.

[33] Zit. n. Fest, a.a.O., S. 478. 

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Heinrich Leitner

    Hi, danke für die (Mit-)Teilung deiner genauen Beobachtungen. Vermutlich hast du in allem Recht. Mich hat insbesondere die Frage beschäftigt, was müssen wir tun, um ähnliches zukünftig zu verhindern. Die Väter des Grundgesetzes haben sich einiges gedacht. Wir kennen ideologische Spuren und objektive „Entstehungsbedingungen“ – vor allem auf das zuletzt Genannte hat die Linke immer wieder stur verwiesen. Hannah Arendt nimmt sich jetzt etwas raus – auch (!) Du nennst es eine steile These. Ich war beim Lesen zum Teil selbst über ihre Radikalität verblüfft, die, wäre sie nicht dem Geist einer jüdischen Exilantin entsprungen, (noch) größere Feindseliglichkeiten geerntet haben dürfte. Andere Lesern hätten sich von mir gewünscht, dass ich mich aus Gründen der Fairness mit der heftigen Kritik, der sich Hannah Arendt insbesondere von jüdischer Seite ausgesetzt sah, befasst oder sie zumindest relativierend erwähnt hätte.
    Neben manch anderen, durchaus kritischen Positionen gegenüber dem jüdischen Selbstverständnis (Assimilation als Katalysator für die Entrechtung!?) ist es vor allem die Einordnung der Rolle des Antisemitismus, die Hannah Arendt deutlich abschwächt. Eigentlich ist das ziemlich trivial, schließlich gibt es „allerorten“ Antisemitismus, der nicht im Holocaust endet, und totalitäre Regimegenug, die ihr Feindbild nicht aus Antisemitismus ziehen – im Gegenteil sich den Antisemitismus gerade zum Feindbild erklären können. Der Versuch, „Faschismus“ über das PCR analoge Aufspüren von Molekularschnipseln von Antisemitismus zu bekämpfen, ist inadäquat und kann sogar gefährlich werden. Vor allem, wenn es mit Eichmännischem Stumpfsinn und Speerscher Intelligenz vollzogen wird.
    Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass 1776, 1789, 1830, 1848, 1918, 1933ff. Die „Eliten“ immer überwältigend auf der Seite standen, auf der sie danach nicht mehr stehen wollten. (Das ist natürlich etwas grobschlächtig, aber ihr Historiker könnt für dieses ideologische Skelett das historischen Muskeln rekonstruieren, die zur Gestaltung der politischen Realität notwendig waren.😁) Immer sind die „Revolutionäre der Aufklärung“ durch brave Bürger in Verwaltung, Juristerei, Wissenschaft und als „Meinungsmacher des Öffentlichen“ verfolgt worden. Die Freislers sind weiterhin – wie immer und überall – aktiv. Sie verweisen auf Recht und Gesetz und das „gesunde“ Volksempfinden, dem sie sich verbunden und verpflichtet fühlen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass jeder der sich ein Ohr abschneidet ein großer Künstler und jeder, der eine Ordnungswidrigkeit aus Überzeugung begeht, eine aufklärerische Geistesgröße ist.
    Deine Einwände sind völlig berechtigt. Insbesondere die Funktion der Verwaltung und die verbeamtete Bürokratie ist definitiv ein Modernisierungsgewinn und sorgt für die Trennung politischer Meinungen von staatlichen Regelungen. Sozis werden nicht als vaterlandslose Sozis, sondern als Bürger behandelt – und zwar von Beamten, die gerade das von ihnen glauben. Das gilt umgekehrt auch von grünen Verwaltungsleitern oder Richtern, die die Rechtmäßigkeit von Anträgen oder Handlungen zu prüfen haben, ohne eine (private) Gewissensprüfung des vermeintlich rechtsradikalen AFD-Wählers vorzunehmen. Die politische Neutralität ist ein zweischneidiges Schwert, das es gut zu pflegen gilt.
    Wenn ich Recht sehe, sollte das Grundgesetz gerade sicherstellen, das das höchst effektive Werkzeug wirklich richtig eingesetzt wird: sein Einsatzfeld sollte radikal (!) und unbedingt(!) begrenzt werden. Wann immer die Meinung der Mehrheit mit Grundrechten in Konflikt geraten sollte, galt es, den Grundrechten des Einzelnen den unbedingten Vorrang zu gewähren. Gute acht Jahre nach der Erfahrung des Nationalsozialismus, kam 1957 das Verfassungsgericht zu der Entscheidung, dass – etwas vereinfacht formuliert – Homosexualität strafwürdig ist und der Paragraph 175 StGB verfassungskonform. Das Gericht verwies dabei auf die überwältigende Meinung der berufenen Sachverständigen – wir würden heute neudeutsch sagen follows the Science. Die Mehrheit sollte vor der Freiheit geschützt werden. Das sieht man heute zum Glück nicht mehr so und die damals beteiligten müssten sich in Grund und Boden schämen! Tun sie das oder würden Sie es tun, wenn sie es denn noch könnten? Wie wurde darüber im Öffentlich-Rechtlichen berichtet und in unseren Qualitätsmedien? Jedenfalls gab es wiedermal Globkes, die die entsprechenden Auslegungen gaben. Wohlgemerkt keine zehn Jahre nach dem Versuch, mit dem GG solches zu verhindern.
    Es mag einen objektiven Zusammenhang zwischen historischen Umständen, also dem Gemenge von ökonomischen, politischen, ideologischen, gruppen – und massenpsychologischen Impulsen, geben, der dem Holocaust mehr entspricht; und es mag tatsächlich bei Hannah Arendt die Konzentration auf die (individuelle) Schuldfrage vorliegen, was anlässlich des Prozesses verständlich ist, und die größere historische Perspektive fehlen – auch Hans Mommsen deutet das in seiner abwägenden, fein urteilenden Einleitung zur Ausgabe von 1981 an…. aber dafür haben wir ja Historiker, die das für unsere Zeit aufbereiten und die Geschichte so erzählen, dass sie sich nicht wiederholt. Wir zählen auf Euch.

Schreibe einen Kommentar